Ernst Ludwig Kirchner: Druckgrafiken als ausdruckstarke Experimente

Das Bucerius Kunst Forum präsentiert mit der Ausstellung „Kirchner. Das expressionistische Experiment“ bis zum 7. September 2014 das druckgrafische Werk des „Brücke“-Künstlers Ernst Ludwig Kirchner.

Badende, Selbstportraits des Künstlers und Szenen der Großstadt Berlin sind Motive, die Ernst Ludwig Kirchner in seinen Werken festhielt. Er versuchte die Schönheit und das Wesen der Dinge zu erfassen. Kantige, grobe Formen, auffallende und kontrastreiche Farben wie auch fließende Linie bestimmen seine eindringlichen expressionistischen Werke.

Kirchner (1880-1938) war Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Brücke“ und gehörte zu den einflussreichsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Dabei beschäftigte er sich nicht nur mit der Malerei. Vielmehr experimentierte er sehr umfangreich mit Druckgrafiken und nutzte diese, um sich im neuen expressionistischen Stil auszuprobieren.

Die Künstlergruppe „Brücke“

1905 gründeten Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden die Künstlergemeinschaft nach gut einjähriger Vorbereitungsphase. Die Künstler wollten sich von der tradierten Malweise der Akademien lösen und der Kunst eine neue, einheitliche Richtung geben. Der Gruppe gehörten später auch Max Pechstein, Otto Mueller und Cuno Amiet an, für kurze Zeit auch Emil Nolde und Kees van Dongen, sowie weitere passive Mitglieder. Die Brücke bestand bis 1913 und wurde eine der bedeutendsten Vereinigungen des deutschen Expressionismus. Ein eindringlicher und kontrastreicher Einsatz von Farbe, kantige, grobe Formen und Verzicht Details und der „holzschnittartige“ Charakter der Malerei und weiterer Techniken sind die Hauptmerkmale des künstlerischen Stils (Quellen: Wikipedia und Ausstellungskatalog des Bucerius Kunst Forums  „Die Brücke und die Moderne“).

1901 begann Kirchner ein Architekturstudium in Dresden und belegt Kunstkurse, 1911 zog er nach Berlin (sein künstlerisches Frühwerk: Atelier- und Straßenszenen aus Dresden und Berlin). Die Sommeraufenthalte auf der Ostseeinsel Fehmarn prägten eine weitere Schaffensphase. 1915 meldete sich Kirchner zum Militär, erlitt jedoch in der Ausbildung einen psychischen Zusammenbruch. Es folgten Sanatoriumsaufenthalte. Ab 1918 lebte er in den Schweizer Bergen bei Davos. Dort entstand sein Spätwerk. 1938 nahm sich Kirchner das Leben, nachdem die Nationalsozialisten seit 1937 seine international beachteten Werke als entartete Kunst geächtet hatten.

Kirchner stellte Druckgrafiken als Unikate her

Im Gegensatz zu anderen Künstlern wie etwa dem Maler und Grafiker Henri de Toulouse-Lautrec (bis 3. August 2014 zu sehen in der Ausstellung „C’est la vie – Das Paris von Daumier und Toulouse-Lautrec in der Hamburger Kunsthalle) gab Kirchner seine Grafiken nicht zum Drucken weg und nutzte sie auch nicht für größere Reproduktionen. Für Kirchner hatte eine Druckgrafik den gleichen Stellenwert wie ein gemaltes Bild. Ihm war wichtig, dass ein Künstler das gesamte Werk allein machte. Dazu gehörte für ihn auch, dass er als Künstler selbst jedes Blatt druckte. Häufig kennzeichnete er seine Unikate mit „Handdruck“ oder „Eigendruck“, um diese Besonderheit hervorzuheben. Ob Holzschnitt, Radierung oder Lithografie – so wurde jeder Abzug ein Unikat. Und Kirchner experimentierte mit denselben Motiven und unterschiedlichen Farben – so entstanden etwa die Badenden in den Farben Orange und Rosa.

Kirchners Druckgrafiken waren keine Vorstufen zu Gemälden. Am Anfang standen oftmals kleine Skizzen. „Kirchner zeichnet wie andere Leute schreiben", formulierte er einmal unter dem Pseudonym Louis de Marsalle in einem Aufsatz über seine künstlerische Arbeitsweise. In nächsten Schritt schuf er Gemälde und die Grafiken folgten häufig erst nach den Bildern.

Nach neuesten Forschungsergebnissen, für die wieder aufgetauchte Briefe des Künstlers ausgewertet wurden, hat Kirchner nur wenige Lithogafiesteine verwendet und teilweise sogar auf einem Druckstock die Vorder- und Rückseite genutzt. Er übte eine besondere Technik aus, den Stein abzureiben; seine Lithografien zeigen immer den Steinrand. Kirchner zog mit seinen Steinen auch um, sodass die Steine im Lauf der Zeit markante Abnutzungsspuren zeigten, die wiederum auf den Werken zu erkennen sind. Die Lithografiesteine gebe es heute nicht mehr, genauso wie Kirchner seine Holzdruckstöcke vernichtet habe. Es existierten nur noch einige Radierdruckplatten, sagte Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, während der Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung. Eben diese neuen Forschungsergebnisse eröffnen einen neuen Blick auf das druckgrafische Werk Kirchners. Das war der Anlass, im Rahmen der Schau „Kirchner. Das expressionistische Experiment“, die Vielfalt an Techniken und den innovativen Umgang mit dem Medium vorzustellen.

Neue Forschungsergebnisse

Wissenschaftlicher Ausgangspunkt für die Ausstellung ist das neu erscheinende Gesamtverzeichnis des druckgraphischen Werks von Ernst Ludwig Kirchner. Der Hamburger Professor für Biochemie und Sammler Günther Gercken gewann im Lauf vieler Jahre neue Erkenntnisse über Kirchners Vorgehen, die schließlich zu Umdatierungen und Neubetitelungen in einem Werk führten, das längst erschlossen schien. Mit seinem auf sieben Bände angelegten Werkverzeichnis wird nun Kirchners expressionistisches Experiment erneut zur Diskussion gestellt. Seit September 2013 liegen die ersten beiden Bände des neuen Projektes vor: „Kritisches Werkverzeichnis der Druckgraphik: Band I und II, die Werke von 1904–1911“ (Bern 2013). Erstmals führt ein druckgraphisches Werkverzeichnis nicht allein die Werke, sondern auch alle individuellen Zustände mit weitgehender Angabe der Standorte auf (Quelle: Bucerius Kunst Forum).

Die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum zeigt mehr als 130 oft großformatige und starkfarbige Holz- und Linolschnitte, Radierungen und Lithographien aus der weltweit bedeutenden Sammlung des Brücke-Museums Berlin. Ergänzend sind einige Gemälde aus deutschen Privatsammlungen den Grafiken gegenübergestellt. Es handele sich erst um die dritte Ausstellung zu Kirchners Druckgrafik überhaupt und das sei verwunderlich, weil Kirchner das größte druckgrafische Werk der Brücke hinterlassen habe, so Westheider.

Die Schau zeigt das innovative Experiment mit Druckgrafiken

Die Ausstellung ist in sieben Themenfelder gegliedert, die den experimentellen Umgang Kirchners in all seinen Schaffensphasen mit verschiedenen Techniken und seinen Motiven verdeutlichen: Immer wieder setzte sich Kirchner kritisch mit der eigenen Persönlichkeit auseinander („Selbstbildnisse“). Der Künstler portraitierte auch die Menschen, denen er begegnete, immer auf der Suche nach dem Wesen des Menschen („Portraits“). Wie andere Brücke-Künstler thematisiert er einen neuen, natürlichen Umgang mit Nacktheit („Modelle“). Dies drückt sich auch in seinen Grafiken „Badende“ aus. 1912 bis 1914 arbeitete er in den Sommermonaten mit seinen Freunden auf der Ostseeinsel Fehmarn. „Für Kirchner war Fehmarn das Paradies – seine Südsee“, erzählte Magdalena M. Moeller, die Direktorin des Brücke-Museums Berlin, während der Pressekonferenz, „auf Fehmarn sind sagenhafte Holzschnitte entstanden“. Kirchners Sehnsucht nach Einklang zwischen „Mensch und Natur“ und dem darin ausgedrückten Wunsch, bürgerlichen Konventionen zu entfliehen, hält er in Landschaftsmotiven rund um Dresden und später den Schweizer Bergen bei Davos fest. Im starken Kontrast dazu erscheinen die Grafiken des Themenbereichs „Großstadt“ – mit Szenen aus dem Nachtleben, Industrielandschaft und hektischem Treiben auf den Straßen. „In Berlin verliert sich die heitere Farbigkeit. Sein Stil ändert sich, wird hektisch“, erläutert Moeller, die die Ausstellung zusammen mit Westheider kuratiert hat. Zu den Höhepunkten von Kirchners Druckgrafiken zählt die „Schlemihl-Mappe“. Darin verarbeitet er nach dem Roman von Adelbert de Chamisso (1781 – 1838) die Geschichte von Peter Schlemihl, der seinen Schatten an den Teufel verkauft und dadurch von den Menschen ausgegrenzt und geächtet wird. Kirchner spiegelt in der Romanfigur seine eigene Lebenskrise.

Die Ausstellung „Kirchner. Das expressionistische Experiment“, Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg, bis zum 7. September 2014, Öffnungszeiten: täglich 11 bis 19 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. Dazu gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Literaturabenden, Swing-Party. www.buceriuskunstform.de

Wer sich intensiver mit dem Werk Ernst Ludwig Kirchners beschäftigen möchte, hat dazu in diesem Jahr in Deutschland gute Gelegenheit. In Schwerin findet die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner – Jan Wiegers“ (5. Juli bis 28. September 2014, Galerie Alte & Neue Meister Schwerin) statt, und in München ist die Schau „Farbenmensch Kirchner“ bis zum 31. August 2014 (Pinakothek der Moderne) zu sehen.

Der Beitrag (hier ohne Abbildungen) ist am 3. Juni 2014 im regionalen Online-Nachrichtenportal www.business-on.de/hamburg erschienen.

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