Die vergessenen Opfer – Sonderausstellung über „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

In Afrika, Asien und Lateinamerika haben mehr Soldaten als in Europa am zweiten Weltkrieg teilgenommen. Es gab Millionen Kriegstote. Die Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme greift diese wenig bekannte Thematik auf und versucht einen Perspektivwechsel von einer eurozentrischen zu einer globalen Geschichtsschreibung zu schaffen.

Unsere europäische Geschichtsschreibung orientiert sich gemeinhin an diesen bekannten Eckdaten: Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg in Europa mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor erklärten die USA dem Kaiserreich Japan im Dezember 1941 den Krieg und Tage später folgte Hitler mit der Kriegserklärung an die USA. Am 8. Mai 1945 endete schließlich der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Deutschlands.

Die „weiße“ versus „einheimische“ Geschichtsschreibung

Die Sonderausstellung fügt die weltumspannenden Konflikte und deren Zusammenhänge anders zusammen und beleuchtet den global geführten Krieg aus der Sicht einheimischer Beteiligter in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika. Demnach begann der Zweite Weltkrieg in Afrika und Asien bereits lange vor dem Einmarsch der Deutschen in Polen und endete in Asien erst nach der Kapitulation Deutschlands. So war „ein brutaler Kolonialkrieg des faschistischen Italiens in Libyen in den 1920er-Jahren das Vorspiel für den faschistischen Krieg in Äthiopien1935/36“, erklärte Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte, anlässlich der Ausstellungseröffnung. 1943/44 kam eine Hungersnot in Algerien hinzu, weil Faschisten in ganz Afrika Lebensmittel rekrutierten. Das Massaker von Nanking – im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg – fand 1937 statt und zum Kriegsbeginn in Deutschland gab es in China bereits Millionen Tote.

Die Aufarbeitung des Kriegs und der schrecklichen Verbrechen konzentriert sich in Europa auf den Holocaust und mitteleuropäische Schauplätze. Die Sonderausstellung zeichnet dagegen ein nahezu unbekanntes, erschütterndes Bild des verheerenden Kriegs, das die allein schon grausame Dimension aus unserer europäischen Sicht um ein Vielfaches übersteigt.

Fast alle unabhängigen Länder der Dritten Welt hatten Deutschland 1944 den Krieg erklärt

Es waren nicht nur alle damaligen Großmächte am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Vielmehr gab es eine große internationale Solidarität. „1944 hatten nahezu alle Länder der Dritten Welt, die damals bereits unabhängig waren, Deutschland den Krieg erklärt. Darüber hinaus hatten die kriegführenden Mächte auch all ihre Kolonien in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika in den Krieg mit einbezogen“, erläuterte der extra aus Köln angereiste Sozialwissenschaftler und Ausstellungskurator Karl Rössel im Rahmen seines fachkundigen Vortrags zur Eröffnung. In einem unvorstellbaren Ausmaß kämpften Menschen aller Kontinente freiwillig wie auch gezwungenermaßen als Rekruten an der Seite der Alliierten im Einsatz gegen die faschistischen Achsenmächte. Dabei mussten sich Kämpfer aus den Kolonien mit weniger Sold und schlechteren Unterkünften als ihre weißen Kameraden begnügen. Auch auf Seiten Deutschlands, Italiens und Japans gab es Sympathisanten und zwangsverpflichtete Hilfskräfte. Die gravierenden Folgen: zahllose Kriegsopfer und entsetzliche Kriegsverbrechen in der Dritten Welt. So war beispielsweise Ozeanien eines der Hauptschlachtfelder des Zweiten Weltkriegs. Die Einwohner wurden als Kundschafter, Soldaten und lebende Schutzschilde eingesetzt. Hunderttausende Frauen wurden im Krieg Opfer sexueller Gewalt, so Rössel.

Weite Teile dieser Welt, die als Kampfplätze des Weltkriegs dienten und verwüstet zurückblieben, werden in unserer Geschichtsschreibung bis heute ausgeblendet – Millionen Menschen, deren Schicksale wir bisher nicht im Blick haben. Allein China verzeichnet mit 14 Millionen Opfern mehr als die Achsenmächte Japan, Italien und Deutschland zusammen, weitere 5 Millionen Kriegsopfer gab es in den Kolonien, 2,5 Millionen in Indien.

Diese Fakten waren der Ausgangspunkt für die Wanderausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", die der Verein „Recherche International e. V.“ in Zusammenarbeit mit dem Autoren-Kollektiv des Rheinischen JournalistInnenbüros in Köln erarbeitet hat. Die Initiatoren um Karl Rössel haben auf vielen Reisen in dreißig Ländern umfassendes Recherchematerial mit unzähligen Berichten von Zeitzeugen und Sammlungen historischer Dokumente zusammengetragen, durch die sie Einheimischen in der Ausstellung eine Stimme geben. Interessanterweise trafen die Initiatoren, sagte Rössel, anders als bei uns, auf eine sehr präsente und teilweise sehr gut aufgearbeitete Geschichtsschreibung in der Dritten Welt.

Warum verdrängen wir bis heute die Folgen der Kolonialgeschichte und des Zweiten Weltkriegs?

Erklärungen für unsere europäisch-weiße Geschichtsschreibung sind laut Karl Rössel in der Herrenmenschenideologie und dem europäischen Kolonialismus zu finden. So habe es trotz Entkolonialisierung und Befreiung von den Nazis eine Fortsetzung vieler entsprechender Strukturen gegeben. Es sei trotz der Niederlage der Deutschen die Geschichte der Sieger und der Wohlhabenden, einer Bevölkerung und Menschen gleichen Ranges. Die eigentlichen Verlierer haben dagegen keine Stimme und das seien Millionen Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika und den Pazifikregionen.

Auch nach dem Krieg sei die Ignoranz gegenüber Bewohnern Ozeaniens sehr präsent – dort lebten, anders als es häufig öffentlich dargestellt werde, Millionen Menschen – und der Drittem Welt im Allgemeinen. So wurden bis 1996 auf den befreiten pazifischen Inseln Atomtests durchgeführt. Kein Gebiet der Welt sei so stark radioaktiv verseucht wie der Pazifik.

Rössel beschrieb eindringlich die Notwendigkeit, die einseitigen Denkstrukturen zu durchbrechen und einen Perspektivwechsel von unserer eurozentrischen zu einer globalen Geschichtsschreibung zu erreichen – und um damit möglicherweise auch mehr Verständnis und Solidarität für heutigen Kriegsflüchtlinge zu erreichen.

„Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Die Sonderausstellung gliedert sich in drei große Kapitel über Afrika, Asien und Ozeanien sowie ein kleineres über Lateinamerika. Eine Karte der Kolonialgebiete im Eingangsbereich veranschaulicht das geographische Ausmaß des Weltenbrands. Die einzelnen Ausstellungstafeln mit Fotos und Texten sowie Hörstationen und Videos erzählen jeweils in sich geschlossene Geschichten mit zahlreichen erschreckenden Fakten: Tief berühren die Porträts und Kurzbiographien junger Mädchen und Frauen, die aus Nachbarstaaten in japanische Militärbordelle verschleppt wurden, um dort als „Trostfrauen“ täglich, massenhaft und teilweise über Jahre vergewaltigt zu werden. Auch schafft die Ausstellung Querbezüge zu Naziverbrechen, wie der Judenverfolgung außerhalb Europas (700.000 Juden in Nordafrika und Nahost), und thematisiert Kollaborationen.

Sonderausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" KZ-Gedenkstätte Neuengamme, im Südflügel der ehemaligen Walther-Werke, Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg. Laufzeit bis 30. Juni 2013, Öffnungszeiten: montags bis freitags von 9.30 bis 16 Uhr und samstags/sonntags von 12 bis 19 Uhr. Es gibt ein ausführliches Begleitprogramm. Weitere Informationen: www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de

— Tanja Königshagen —

Der Beitrag (hier ohne Abbildungen) ist am 26. April 2013 im regionalen Online-Nachrichtenportal www.business-on.de/hamburg erschienen.


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