100 Jahre Chilehaus in Hamburg – Geschichte und Geschichte rund um die architektonische Ikone
Anlässlich des 100-jährigen Bestehen des Chilehauses in Hamburg hat Isabel Arends, Urenkelin des Bauherrn Henry Sloman, ein unterhaltsames, wissensreiches Buch jenseits der typischen Architekturführer verfasst. Im Rahmen einer Lesung im Schnelsener Büchereck Anfang Juli hat die Autorin ihr Werk vorgestellt, angereichert mit viele Anekdoten und persönlichen (Familien-)Eindrücken.
Die promivierte Kunsthistorikerin verbindet in ihrem Buch „Im Licht des silbernen Kondors“ spannende Fakten um Menschen, Tiere und Mythen in Chile mit Details aus der Entstehungszeit des Chilehauses und Einblicken in die Familiengeschichte. Ausgangspunkt sind die Tier- und Symboldarstellungen am Chilehaus, über die bisher niemand geschrieben habe. „Das Buch wollte gefunden werden; das Chilehaus hat immer schon Geschichten erzählt“, so Isabel Arends. Während der gutbesuchten Lesung schildert die Autorin, dass sie zehn Jahre lang historische Quellen wie Handbücher für Auswanderer sowie wissenschaftliche Grundlagenforschung des 19. Jh. zu indigenen Völkern Lateinamerikas, Geologie, Zoologie und auch Alltagskultur, Migration und Wirtschaftsgeschichte gesichtet habe. „Das Beste habe ich in das Buch hineingepackt.“ In 22 Kapiteln sind Fakten mit fiktiven Szenen und Dialogen unterhaltsam verwoben und „lassen Geschichte lebendig werden“.
Drei besondere Männer in einer Zeit der Krise und wegweisende Klinkerkunst
Seit 2015 zählt das Chilehaus mit Kontorhausviertel und Speicherstadt zum Unesco-Welterbe. „Beim Bau des Chilehauses sind viele glückliche Momente in einer Krise zusammengekommen“, sagt Arends, „mit drei besonderen Männern ist Besonderes entstanden“. Es geht um Mut, Antrieb und Kühnheit. Henry Sloman ließ den monumentalen und zugleich filigranen Klinkerbau 1922 – 1924 nach Plänen des Architekten Fritz Höger errichten. An der Detailgestaltung des Hauses habe der Architekturplastiker Richard Kuöhl großen Anteil gehabt. Alle drei hätten sich quasi aus dem Nichts hochgearbeitet: Sloman war Unternehmer, Visionär und Bauherr des Chilehauses. Mit dem Abbau von Salpeter in der Atacama-Wüste hat er es zu Reichtum gebracht. Höger war Schreiner, kein klassischer Architekt. Das sei der „Moment, wo Neues entsteht, wenn jemand von außen kommt“, gewesen. Kuöhl hatte in Meißen Bildhauerei studiert. In Högers Auftrag fertigte er die Skulpturen und Motive der Betondecken wie auch alle keramischen Bauteile, Laubengänge und Arkaden. In der Wirtschaftskrise sei das Chilehaus die einzige Baustelle gewesen, auf der regelmäßig bezahlt wurde. Das begünstigte, dass die Hamburger Baubehörde 17 Besonderheiten erlaubte und nie Dagewesenes entstehen konnte: die imposante Spitze des Chilehauses, französische Dachgeschosse, revolutionärer Betonguss. Höger habe die besten Handwerker aus dem Heer der Arbeitslosen aussuchen können. „Das hat auf der Baustelle großes Schaffen trotz Krise ermöglicht. Was hier entstand und gelernt wurde, prägte die Hamburger Klinkerkunst“, so die Kunsthistorikerin.
Symbolträchtige Tiere, indigene Mythen und Gesellschaftliches
An der Spitze des Chilehauses befindet die Skulptur eines Andencondors. Im Volk der Quechua gelte dieser als Vogel der Wahrheit und Gerechtigkeit. Die silbernen Federn der älteren Condore nutzten die Indigenen für rituelle Zwecke, erzählt Arends. Andere Abbildungen zeigen Schildkröte, Kapuziner-Affe, Kormoran, Delfin und Eidechse. Um diese Tiere ranken sich Mythen, Fabeln, Aberglauben, die Arends in ihren Erzählungen aufgreift. Sie sagt auch: „Man kann über die Tiere Chiles nicht schreiben, ohne die Grausamkeiten zu erwähnen, die ihnen widerfahren sind. Die Tiere stehen auch ein bisschen stellvertretend für das, was Menschen in diesem Land erlebten.“ Die fiktiven Gespräche der Familienmitglieder geben außerdem einen Einblick in die großbürgerliche Welt der Familie zwischen „chilenischer Herzlichkeit und „hanseatischer Steifheit“. Zur Sprache kommen zudem längst vergessene Bräuche der chilenischen Gesellschaft ebenso wie die Kehrseiten des Kolonialismus, etwa das brutale Leben und die Gier der eingewanderten Glückritter.
Das Buch ist sehr lesenswert - und wer es gelesen hat, wird das Chilehaus ganz sicher mit ganz neuem, interessiertem Blick betrachten.
Dieser Artikel ist in kurzer Version, bebildert, im Lokalmagazin „DorfGeflüster“, Ausgabe August 2024, Seite 12, erschienen. Hier als PDF hinterlegt.